Quelle: Stuttgarter Zeitung vom 10.11.2009
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Privatpraxen
"Mehr Zeit für die Patienten"
Nicole Höfle, veröffentlicht am 10.11.2009
Der Kinderarzt Peter Rasspe hat den Kreis seiner Patienten eingeschränkt.
Foto: Honzera
Stuttgart - Peter Rasspe behandelt nur Privatpatienten. Das große Geld, das einem schnell in den Sinn kommen mag, verdient der 44 Jahre alte Kinderarzt zumindest bis jetzt noch nicht. Im Gegenteil, Rasspe hat alle Mühe, Patienten in sein Sprechzimmer zu lotsen. An schlechten Tagen ist der Arzt mit seiner Sprechstundenhilfe allein, an guten Tagen kommt er auf fünf Patienten, für die er dann immerhin den höheren Honorarsatz der Privatversicherungen abrechnen kann.
Peter Rasspe hat sich für einen alternativen Weg entschieden, quasi für den Ausstieg aus dem kassenärztlichen System, den verärgerte Ärzte in diesem Jahr bei vielen Protestveranstaltungen angedroht haben, um Druck auf die Politik zu machen. Rasspe hat nicht protestiert. Eine Privatpraxis eröffnet hat er trotzdem - und gehört damit zu einer kleinen Gruppen von Medizinern, aber einer, die tendenziell wachse, wie Oliver Erens von der Landesärztekammer feststellt. Der Pressesprecher schätzt, dass sich von den insgesamt 18.288 niedergelassenen Medizinern im Land zwischen 500 und 600 ausschließlich auf Privatpatienten spezialisiert haben.
Mehr Zeit für Patienten
Welche Klientel der Kinderarzt Rasspe ansprechen will, sagt ein Blick in die Sprech- und Wartezimmer: Überall liegt schöner Eiche-Parkettboden, überall stehen geschmackvolle alte oder teure neue Möbel. Selbst die Untersuchungsliege ist ein alter Schreibtisch, für den Rasspe eine Auflage hat fertigen lassen. "Ich wollte nicht wie meine Kollegen 70 bis 80 junge Patienten jeden Tag durchschleusen müssen, um auf meinen Schnitt zu kommen", sagt der Mediziner. Er wolle Zeit haben für seine Patienten. Die nimmt er sich dann auch für die Chinesin, die mit ihrem magenkranken Sohn gekommen ist. Obwohl die Diagnose bald feststeht, dauert das Gespräch fast eine halbe Stunde. Der Arzt redet Englisch mit der Frau und tippt geduldig Begriffe, die sie nicht versteht, in einen Computer ein, der die Übersetzung liefert.
Eine kassenärztliche Zulassung hat Rasspe gar nicht beantragt, bekommen hätte er sie zumindest im Moment auch nicht. Die Zulassungen werden von der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) reguliert, und im Bereich der Kinderheilkunde gibt es in Stuttgart derzeit keine freien Arztsitze, wie Gisela Dahl vom Vorstand der KV erläutert. Etwa 50 Kinder- und Jugendärzte praktizieren in Stuttgart, Dahl spricht sogar von einer Überversorgung. Rasspe dagegen berichtet von vollen Wartezimmern, langen Wartezeiten, Behandlungen im Zehnminutentakt und von Kollegen, die keine neuen Patienten mehr aufnehmen können, weil sie die Kapazitäten nicht haben.
Privatpatienten als Sahnehäubchen
Das Wagnis, sich nur auf Privatpatienten zu verlegen, gehen nur wenige Ärzte ein. "Es ist schwierig, sich nur von Privatpatienten und Selbstzahlern zu ernähren", sagt Erens. Deshalb setzen die meisten Niedergelassenen auf eine Mischkalkulation: die gesetzlich Versicherten als Grundstock, die Privatpatienten quasi als Sahnehäubchen fürs Konto. Auch Gisela Dahl von der Kassenärztlichen Vereinigung ist der Ansicht, dass sich eine Privatpraxis nur dann lohne, wenn die Mediziner Zusatzqualifikationen anbieten können, beispielsweise in der Akupunktur oder der Homöopathie. "Wir gehen davon aus, dass ein Arzt mindestens 2500 Patienten haben muss, um überleben zu könne. Auf diese Menge muss man erst einmal kommen", so Dahl.
Auch der Hautarzt Andreas Schlegel hat sich von den Rechnungen der Ärzteorganisationen nicht abschrecken lassen. Nach vier Jahren als Dermatologe mit Kassensitz hat er diesen an die KV zurückgegeben und vor zwei Jahren mit einer Privatpraxis neu angefangen. Schlegel hat leise den Systemausstieg vollzogen, sich damit bei den Kollegen aber nicht gerade beliebt gemacht. "Ich bin ein hohes Risiko eingegangen, aber ich bereue es nicht."
Auch der Dermatologe hat die erste Zeit in seiner Praxis gesessen und auf Patienten gewartet, inzwischen hat er sich einen festen Stamm aufgebaut. "In der früheren Praxis hatte ich einen Takt von zehn Minuten pro Patient", sagt Schlegel. Jetzt könne er sich für die Patienten beim ersten Gespräch bis zu einer Dreiviertelstunde Zeit nehmen und bei den folgenden Behandlungen nach Bedarf. Weiterer Pluspunkt aus Sicht des 41-Jährigen: "Ich kann die Patienten so versorgen, wie ich es für richtig halte, ohne jedes Quartal auf das Arzneimittelbudget zu schielen und ohne mich vor Regressforderungen der Kassenärztlichen Vereinigung fürchten zu müssen."
Zufriedenheit statt Geldgier
"Ich weiß zwar nicht, ob ich am Ende so viel verdiene wie meine Kollegen, aber ich bin auf jeden Fall zufriedener mit meiner Arbeit", sagt der Hautarzt, der sich ganz den Wünschen der Patienten angepasst hat und Sprechstunden frühmorgens und spätabends anbietet. Und der lernen musste, dass er sich manche Investition hätte sparen können, zum Beispiel die in Kabinen für Lichttherapien. "In der alten Praxis waren diese ständig im Einsatz, jetzt brauche ich sie kaum." Der Grund: viele seiner wohlhabenden Privatpatienten haben eine eigene Lichttherapieanlage im Keller.
Peter Rasspe machen die Erfahrungen aus den anderen Privatpraxen Mut. Ermutigen dürften ihn auch die Zahlen des Verbandes der Privaten Krankenkassen, der im Durchschnitt jedes Jahr 100.000 neue Privatversicherte zählt. Insgesamt sind derzeit 8,4 Millionen Menschen privat versichert, also etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Und dann sind da noch die Prognosen der Privatärztlichen Verrechungsstelle, die bundesweit für 10.000 Arzte die Privatabrechnungen macht. Dort geht man davon aus, dass nicht nur die Zahl der Privatversicherten weiter wachsen dürften, sondern auch die der Selbstzahler.